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Matthias Reichelt: Rede zur Ausstellungseröffnung von Sabine Ostermann und Lothar Seruset am 19.6.2015 bei Galerie Tammen und Partner
Sehr geehrte Damen und Herren,
In dieser Ausstellung mit Linolschnitten von Sabine Ostermann und Holzskulpturen und -reliefs von Lothar Seruset finden Sie Motive, die sich mit dem Leben in der Gegenwart befassen, und dennoch keineswegs einem punktgenauem Realismus folgen, sondern über den Tag hinaus philosophische Betrachtungen über Gegenwartsbezüge provozieren. Allegorisch, ironisch und humorvoll, aber auch mit philosophischem Ernst und dennoch spielerisch, animieren beide Künstler die Betrachter auf sehr unterschiedliche Art, sich mit Fragen unseren allen Tuns und Seins zu beschäftigen.
Beiden gemeinsam ist die auf Subtraktion beruhende handwerkliche Arbeit. Durch gezielte und sukzessive Wegnahme, durch Fräsen, Schneiden, Schnitzen, setzen sich die eingekerbten Linien, die herausgearbeiteten Partien zu Bildern und zu den skulpturalen Formen zusammen. Die Farbgebung steht bei beiden jeweils am Ende des Schaffensprozesses. Materialbedingt entstehen bei Seruset massive Skulpturen und Reliefs und bei Ostermann reliefartige flächige Bilder.
Sabine Ostermann hat als bildende Künstlerin sich anfangs der Grafik verschrieben und Radierungen gefertigt. Seit geraumer Zeit arbeitet sie ausschließlich mit dem Material Linol und hat dazu beigetragen, eine – ungerechtfertigt als altertümlich verkannte Technik – wiederzubeleben. So, wie es völliger Blödsinn war – ich sage dies bewusst in dieser Drastik – immer mal wieder aufgrund modischer Trends, den Tod des Tafelbilds zu verkünden, genauso deplatziert ist es, irgendeine künstlerische Technik als passé zu deklarieren. Die Künstler sind da klüger als viele Kuratoren oder Kunstkritiker und finden ihren eigenen Weg zu „ihrem“ Material. Und, was Wunder, es entstehen immer wieder ganz neue Annäherungen an Material und Medium. Dies gilt auch besonders in Hinblick auf Sabine Ostermann, die den Linolschnitt eben nicht für einen anschließenden Druck nutzt – von anfänglichen Versuchen abgesehen – sondern ihn als Unikat bearbeitet und ausstellt. Dafür verwendet sie keineswegs die üblichen, im Kunstbereich gebräuchlichen hellbraunen Linolplatten, sondern die Industrieware, die als Bodenbelag und in vielen Färbungen produziert wird, auf die die Künstlerin ganz bewusst zurückgreift. Zusätzlich bearbeitet sie die fertig geschnittenen und reliefartigen Linolplatten mit Alkydfarbe, die sie mal mit dem Pinsel punktgenau aufträgt oder unter Einsatz von Lappen und Terpentin zu einem flächigen Unter- bzw. Hintergrund verwischt. Am Ende sind Sabine Ostermanns Werke Kombinationen aus Linolschnitt und Malerei. Hat sie in manchen früheren Arbeiten aus Linol geschnittene Figuren auf das Relief-Gemälde als zweite Ebene appliziert, und das Werk somit medial zu einer Assemblage erweitert, so ist die Künstlerin in letzter Zeit dazu übergegangen, alle bildgestalterischen Elemente in eine Linolplatte zu schneiden, womit die künstlerische und handwerkliche Herausforderung gestiegen ist. Als Vorlagen dienen oft Zeichnungen, besonders bei den großformatigen Werken.
Auf leichte, humorvolle Weise und mit ironischer Note komponiert sie ihre Beobachtungen aus einer Alltagswelt der Arbeit und des Konsums zu einem floralen oder ornamentalen und man könnte sagen: surrealen Realismus.
In dem Bild „Shopping“ von 2013 begegnen uns neun, Einkaufswagen vor sich herschiebende Männer und Frauen, die, wie in einer Endlosschleife gefangen, ihre Runden drehen. Weit und breit ist kein Ausgangspunkt und auch kein Endpunkt auszumachen, ist keinerlei Einkaufzentrum oder eine Mall zu sehen. Das Alleinstellungsmerkmal dieser Kombattanten im Bild, isoliert voneinander und dennoch verbunden in einer massenhaft betriebenen Aktivität, die zu den Grundlagen und dem Wesensmerkmal des kapitalistischen Systems gehören, könnte als Konsumkritik gelesen werden. Die Künstlerin isoliert die Fortbewegung des Kaufens oder Einsammelns von Waren und inszeniert diese als Kreislauf des ewig Gleichen. Nicht dass ich hier Sabine Ostermann eine grundlegende Ablehnung dieser Gesellschaftsformation unterstellen wollte, dennoch scheint sie diese Endlosschlaufe des Konsumismus mit einer gelassenen Skepsis und auch mit humorvoller Distanz zu betrachten. Wenn die Konsumenten auf ihrem hochformatigen und nicht in der Ausstellung vertretenen, aber im neuesten Katalog reproduzierten Bild „Beutezug“ (2014) von der Rolltreppe im oberen Teil des Bildes herabkommend nach unten rechts aus dem Bild laufen, und die „erbeuteten“ Waren wie Jäger verstauen, ohne miteinander Worte oder Blicke zu wechseln, so scheint die Atomisierung der Figuren, einzig verbunden im Gleichschritt der Apportation, den oben erwähnten Eindruck zu bestätigen.
Die in dem Bild „Expresszustellung“ von 2015 auf die Betrachter bedrohlich und fast aggressiv zurasenden Hunde mit Transportschlitten, beladen mit der fragilen Ladung von Schokoladenosterhasen, müssen dem Diktat des Konsumismus folgen, der sich den Jahreskalender mit allen Feiertagen einverleibt und viele Konsumanlässe wie Valentinstag, Halloween und dergleichen dazu erfindet. Im ewig gleichen Rhythmus sind somit Weihnachten und Ostern als ritualisierte Konsumanlässe Phänomene, denen man kaum entkommen kann. So auch die Schlitten ziehenden Hunde. Kaum sind die Weihnachtmänner passé, werden die restlichen eingeschmolzen und erstehen als Osterhasen wieder auf. Termingeschäfte unter Hochdruck! Sabine Ostermanns Bild kann als leicht garstiger Kommentar zu dem alljährlichen wiederkehrenden Geschenk- und Kaufzwangs-Trubel gelesen werden. Denn der hat so gar nichts von „Stille Nacht, heilige Nacht“ und lässt vor allem die Kassen statt Glocken süßer klingen.
Mancher wird sich noch an den Folklore gewordenen Reim erinnern, den Peter Rühmkorf in seinem Buch „Über das Volksvermögen: Exkurse in den literarischen Untergrund“ 1967 zitierte:
Stille Nacht,
Heilige Nacht,
Alles kauft,
Horten lacht.
Für die ganz Jungen im Publikum: Horten war eine u.a. aus Arisierung hervorgegangene Kaufhauskette des Peter Horten, die unter dem Namen bis in die 1970er-Jahre existierte.
Keineswegs stressfrei sind also solche Feiertage, gerade Weihnachten, die eine starke Belastungsprobe für die Familien bedeuten, soll doch Friede, Freude und Glückseligkeit herrschen. Folgt die Fassade noch diesem Anspruch, lauert kurz darunter blanker Hass und führt nicht selten zu den größten Familienstreitigkeiten.
In „WOLLEn-müssen“ von 2015 sind sieben Figuren in der Wollproduktion miteinander verbunden, ohne sich wahrzunehmen, wie es scheint. Es sind Kinder, die in verschiedenen Produktionsstadien der Wollherstellung tätig sind. Dieses Bild steht als Pars pro Toto für die übliche Kinderarbeit im Textilbereich.
Arbeit und berufliches Beziehungsgeflecht werden von Sabine Ostermann in ihren Werken als ornamentale Verbindung, als verschlungenes und in vielen Verzeigungen und Verästelungen miteinander verwobenes Netzwerk konstituiert. Das Ornament als Symbol der verschlungenen Wege von den Produzenten über den Vertrieb zu den Käufern. Trotz medialer Revolution sind die Distanzen unüberbrückbarer und intransparenter geworden und gerade hinter manchem teuren Label verbirgt sich die brutalste Ausbeutung, gerade auch von Kindern.
In „Networktrouble“ von 2015 ist das verschlungene Knäuel so unauflöslich verflochten und verknotet, dass das verzweifelte Ziehen an losen Enden keine Lösung, sondern nur zur Verhärtung, sprich Verknotung bis hin zur Unbeweglichkeit weiter vorantreiben wird. Hier ist kein kommunitäres Handeln beschrieben, sondern das isolierte, einsame und unkollegiale, allein auf egoistische Ziele gerichtete Vor-sich- Hinarbeiten. Welcome in der neuen Arbeitswelt, mit neuen Medien und größerer Vereinzelung, wo Solidarität nahezu unmöglich wird.
Sabine Ostermann ist eine aufmerksame Beobachterin von Menschen im Alltag. Die beobachteten Szenen komponiert sie mit anderen und neuen Elementen und geriert daraus wunderbar erzählende Bilder. Dem bislang nicht fertiggestellten Berliner Flughafen Willy Brandt widmet sie gleich zwei große Arbeiten. Auf der unbenutzten und für den Verkehr gesperrten Landebahn geben sich die Kaninchen ein fröhliches Stelldichein. Die Anregung erhielt sie durch ein Zeitungsfoto. Wann die Lande- und Startbahn und damit der ganze Flughafen eines fernen Tages in Betrieb genommen werden können, und die Tiere vor dem Lärm der an- und abfliegenden Maschinen das Weite suchen müssen, steht in den Sternen.
Bei Lothar Serusets Skulpturen sind die Menschen und Dinge zu Säulen aufgetürmt, aufeinandergeschichtet, und es entstehen visuell vertikale Beziehungen. Sind die Reihenfolgen des Auftürmens und der Schichtung zeitlicher oder inhaltlicher Art? Sind es womöglich Hierarchien der Wertung? Die Skulpturen evozieren existenzielle Fragen und breiten sich im Kopf der Betrachter zu essayistischen Bildern von Menschsein, Natur und Gesellschaft aus und erweitern damit die Skulptur unsichtbar in eine horizontale Epik. Das klingt merkwürdig, aber die Betrachtung setzt ja meistens bei dem eigenen Leben, der eigenen Zeit und Epoche an.
Lothar Seruset, der zurzeit unter Hochdruck an einer großen Franz-Josef-Strauß-Skulptur für den gleichnamigen Flughafen in München arbeitet, liebt es, die menschlichen und auch tierischen Figuren in einem Balanceakt zu zeigen. Ob sie auf einer Kugel, die jeden Moment durch eine unachtsame Bewegung ins Rollen geraten kann, oder in einem Boot stehen, das sich ebenfalls auf die eine oder andere Seite neigen könnte, die Position ist immer eine fragile. Seine Skulpturen wirken wie komprimierte Philosophie. Sie fordern uns geradezu heraus, uns in der Welt zu positionieren, zu verorten und dem großen Ganzen auf die Spur zu kommen. Ob dies mit Religion, welcher auch immer, geschieht, oder mit einem ganz anderen, eher weltlichen Ansatz, bleibt den Betrachtern überlassen. Lothar Seruset schreibt keine Interpretation vor, er will auch nicht vordergründig politisch wirken, oder uns eine bestimmte Sicht auf die Verhältnisse aufzwingen.
Oben – Unten, das könnte eine Achse sein zwischen dem Mensch, seinem Ursprung und dem was wir gemeinhin als Göttliches oder Gottheit über uns vermuten. Die Achse könnte aber auch einen evolutionären Prozess bedeuten, oder eine Geschichte der Menschheit mit allen ihren Leistungen, Fehlern und vor allem den unzähligen Kriegen. Denn besonders die Arbeiten, die Figuren balancierend auf Schädelhaufen zeigen und selber noch aufgetürmte Schädel auf dem Kopf tragen, verweisen sowohl auf die Vergänglichkeit des Menschen und antizipieren die vielen Toten, die der Zahn der zukünftigen Zeit fordern wird. Ein ganzheitliches Bewusstsein deutet sich hier an, das uns nicht nur in lokalen Verhältnissen begreifen will, sondern uns als Teil des Ganzen sieht, als Partikel eines globalen und universalen Systems. Fragen von Entwicklung, Fortschritt, weiter, schneller und höher, sowie des Verlusts von einer Verbundenheit mit Welt aufgrund eines höheren Egoismus, einer stärkeren Isolation, liegen hier ebenso auf der Hand wie bei Sabine Ostermann.
Lassen Sie mich an dieser Stelle Ernst Bloch zitieren, der nach wie vor hoch aktuell ist:
„Man ist mit sich allein. Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beidem muss man heraus.“
Vielleicht aber ist gerade bei der Einrahmung des Menschen durch die Schädel, eine andere und härtere, weil unversöhnlichere, misanthropischere und anklagendere Konnotation intendiert. Steht hier nicht im Fokus die Spezies Mensch, die als „Master Of War“, wie es bei Bob Dylan heißt, in unzähligen Kriegen millionenfache Morde beging und höchstwahrscheinlich auch in Zukunft zu verantworten haben wird? Doch Lothar Seruset will nicht politisch belehren oder missionieren, anscheinend will er lieber Fragen stellen, und uns zum Nachdenken bewegen. Es ist unsere Aufgabe, die von ihm aufgetürmten Elemente in Reihung zu setzen und daraus eine Erzählung zu formen. In diesem Sinne sind wir eingerahmt von vergangenen Toten und den zukünftigen Toten, wenn wir die Zeitachse über uns hinaus weiter ausdehnen.
Doch zu Säulenheiligen können die Menschen gewiss nicht taugen, auch wenn sie bei Seruset auf den ersten Blick so erscheinen könnten.
Denn der Mönch, der zwecks Verehrung und Nähe zu Gott eine Zeit alleine und in völliger Askese sein Leben auf der Säule gefristet haben soll, wird wohl eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein, auch wenn es in der griechischen Mythologie Vorläufer gab.
Lothar Seruset positioniert ausgerechnet einen König auf einer Doppelsäule. Teuflischerweise sind es gerade die Twin Towers, in die sich am 11. September 2001 zwei Flugzeuge bohrten, die angeblich von einigen teppichmesserschwingenden Fanatikern entführt worden waren. Wie brüchig die „Säulen der Moderne“, die riesigen ökonomische Macht symbolisierenden Architekturen der mächtigsten Nation der Welt sind, konnten wir alle rund um die Uhr wochenlang in Endlosschleifen auf den Bildschirmen sehen. Die Säulen stehen nicht mehr, und was wurde mit dem König, der bei Seruset zu sehen ist? Ist er mit den Türmen untergegangen? War es der König namens Hybris, der glaubte, alles beherrschen und kontrollieren zu können, ohne den Zorn anderer auf sich zu ziehen? Danach war jedenfalls vom Ende der Geschichte die Rede. In Wirklichkeit ging die Geschichte weiter und hat als Rache für die 3000 Toten der Twin Towers das Leben von Hundertausenden in vielen Ländern gekostet. König Hybris hat überlebt und wird die Menschheit wohl weiterhin begleiten. Ich frage nochmals: Taugt der Mensch zum Säulenheiligen? Ich denke, nein.
Der Mensch in Lothar Serusets Werken kann auch eins werden mit seiner Arbeit, so scheint der Fischer völlig beseelt von den Fischen, die er auf dem Kopf trägt. Deutet sich hier eventuell ein ausgewogenes harmonisches Verhältnis an zwischen Mensch und Natur? Und was ist mit der männlichen Figur, die Kopf steht und auf deren Füßen wiederum die Welt und darauf das Hausschwein die Balance halten? Wer hat sich hier wem untertan gemacht? Vielleicht aber hat sich der Mensch hier genügsam und in gespürter Verantwortung sowie gleichzeitiger Ohnmacht völlig den Verhältnissen ergeben, deren Untertan er nunmehr ist?
Wie Sie sehen, ließen sich viele Fäden aufnehmen und Geschichten spinnen aus den unterschiedlichen Figurenkonstellationen, mit denen uns der Bildhauer konfrontiert.
Lothar Seruset liebt die Erzählungen, die auf eigener Beobachtung basieren und zieht diese der kunsthistorischen Betrachtung und Analyse vor, was seinem Katalog von 2012 anzumerken ist. Dort beschreibt der Autor Carsten Probst seinen Weg mit dem Kanu durch die Natur und entlang verlassener Höfe und Dörfer hin zu dem Hof des Künstlers, wo dieser neben der Restaurierung des Hofes seiner künstlerischen Arbeit nachgeht.
Im selben Katalog formuliert Seruset in einem Text zwei Passagen, die Ihnen seine künstlerische Haltung nahe bringen und ich deshalb hier zitiere:
„ ... immer hat mich der Ausdruck interessiert, hat die Farbe eine Rolle gespielt. Und das Material. Um es so zu sagen, dass es einen berührt. ... Und nun wieder im Atelier, noch voll von dem gestrigen Abend, siebenmilliarden Menschen, wie soll das gehen, der Atem, und der Hunger, die Gier, die Katastrophen. Da hast du den argentinischen Rotwein getrunken, der aus getrockneten Rosinen gekeltert wurde, der dich schwer und leicht macht, hast den Mädchen zugesehen, wie sie sich kichernd über den Vater lustig machen, und immer den Fernseher im Blick haben, der eine Spielshow zeigt mit einer Popdiva, die interviewt wurde, nachdem sie ihren Song gesungen hatte, die müssen sie sehen, die ist total gut, und schau, wie die lacht, lachten die Mädchen, während du dachtest, noch leben sie in einer heilen Welt. Das war gestern, jetzt ist das Holz, jetzt riecht es, und du denkst, dass es noch nicht fertig ist, und dass noch gar nichts fertig ist.“
An diesem Text wird deutlich, wie sich bei Lothar Seruset alle Themen gegenseitig durchdringen, das Lokale, das Globale, die Freude am Leben wie auch die Gewissheit über die Missstände, das Falsche, das Unfertige und dass es in jedem Leben, vor allem bei Kindern eine Zeit der völligen Unbeschwertheit und der Sicherheit gibt, die sich im Alter völlig verliert, da man leider eines Besseren belehrt wird. Aber die Summe dieser komplexen Gedanken und widerstreitenden Gefühle findet Eingang in seine Kunst.
Und hier kommen die Werke von Sabine Ostermann und Lothar Seruset zusammen. In verschiedener Weise gelingt es beiden, den komplizierten Zustand von Welt und Gesellschaft in komprimierter Form in Bildern und Skulpturen auszudrücken, die das Potenzial haben, sich wieder zu Erzählungen in unseren Köpfen zu entfalten. Diese Arbeit allerdings müssen Sie als Betrachter selber leisten.
Ich hoffe, meine Ausführungen waren dafür hilfreich und ich wünsche Ihnen einen anregenden Abend mit vielen Gesprächen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Von Netzwerken und Fallstricken. Zu den aktuellen Arbeiten von Sabine Ostermann
Katalog erschienen zu den Ausstellungen im Käthe-Kollwitz-Museum, Berlin und Galerie Tammen & Partner, Berlin 2015
Katalogvorwort von Dr. Birgit Möckel
Shopping Malls gelten gemeinhin als Paradies für Konsumenten. Für Sabine Ostermann sind Einkaufszentren und Warenhäuser das inspirierende Terrain und Fundgrube für jene Entdeckungen und Beobachtungen, die sie mit kritischem Blick und Liebe zum Detail in ihre Bildwelten überführt und so präzise wie ausschnitthaft ausgewählten Linoleumplatten einverleibt, um damit ihre Sicht auf unsere Gegenwart und allgegenwärtige gesellschaftliche Phänomene und Wertvorstellungen vor Augen zu führen.
Die Künstlerin zeigt mit ihren Werken ein eigenwilliges fein austariertes räumliches Zusammenspiel aus graphischen und malerischen Elementen als ganz eigenständiges Medium zwischen Bild und Objekt, Relief und Montage, das die Bezeichnung „Linolschnittobjekte“ dieser aktuellen Werkfolge zu fassen sucht.
Linie um Linie werden im langsamen Arbeitsprozess formgebende Konturen und Strukturen aus dem in monochromen Farbtönen changierenden Trägermaterial und Bildgrund herausgeschält. Diese in das Linoleum geschnittene „Zeichnung“ samt verbleibender Oberfläche wird farbig betont oder zurückgenommen, teilweise bemalt und nicht zuletzt durch die Eigenfarbe des Materials belebt, das an manchen Stellen aufscheint sowie punktuell durch montierte Teile ergänzt. Formatgrenzen werden mit dezidiert gesetzter Teilung überwunden oder der Realitätscharakter dadurch verstärkt, dass die Schnittkanten mit den Umrisslinien der Darstellungen eins werden und damit sowohl an Trompe-l’oeil-Bilder, wie an die Form einer „Shaped Canvas“ angeknüpft wird - Darstellungsmittel, die zu unterschiedlichen Zeiten den Weg aus dem Bild in den Raum vorzeichneten.
Die Idee des Linolschnitts, einem seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlichen druckgraphischen Vervielfältigungsverfahren, führte die Künstlerin zu diesen originären Arbeiten, die nicht im Druck das finale Erscheinungsbild finden, das wieder und wieder reproduzierbar ist. Jedes dieser Bilder ist ein Unikat und individuelles, nur in diesem Zustand existentes Werk, das die Welt auf seine Weise spiegelt. Der dem Material innewohnende Gedanke an Reproduzierbarkeit und Masse bewahrt jedoch wahrhaft hintergründig den Verweis auf die unaufhaltsame Massentauglichkeit von Waren und Wünschen der heutigen Zeit, die sich mittels der globalen Vernetzung mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten.
Themenkomplexe wie Individuum und Masse sowie damit auf das engste verwobene Verhaltensmuster zeigen sich ganz offensichtlich in den Motiven, denen sich Sabine Ostermann mit Akribie und durchaus lustvoller Ironie zuwendet: Seien es tierische Attacken, die sich in anziehenden Dekors von Kleidungsstücken oder in der Paradeposition eines Schoßhündchens finden, das im Miniaturformat auf einem „Altärchen“ verewigt wird. Oder seinen es Formationen von uniformen Weihnachtsmännern, deren „Ho, ho, ho“ aus gigantischen pyramidalen Arsenalen zu schallen scheint und nicht zuletzt jene emsigen Arbeiterinnen befeuert, die diese Heerscharen wieder und wieder füllen und stapeln. Oder gilt der Ruf nicht auch jener wilden Horde, die die Massenware in dunkler Nacht per „Expresszustellung“ unter die Menschheit bringt? Als einmal gesetzter Ton klingt das Echo des in der Vorweihnachtszeit eskalierenden unerbittlichen Konsumdrangs oder –zwangs auch in anderen Werken dieser aktuellen Reihe der Künstlerin nach, um in den wiederkehrenden Kreisläufen eines allgegenwärtigen „Shopping“ in vorgegebene einsame Umlaufbahnen zu finden, aus denen es kein Entrinnen gibt. Mit giftgrüner Farbe sind die einzelnen Protagonisten wie Marionetten auf die Spur gesetzt und folgen. Einer dem anderen.
In steter Bewegung gefangen sind viele weitere dargestellte Typen und Charaktere und mit ihnen nur allzu gegenwärtige Verhaltensweisen. Zeit für Muse gibt es nicht. Nicht beim Essen, das in kleinen appetitlichen Häppchen wie am Fließband vorbeizieht und flink aufgeschnappt oder mindestens ebenso schnell und beiläufig im Laufschritt vertilgt werden will. Multitasking und Dauerinformation in jeder Lebenslage. Kommunikation ist alles. Gleich, ob eingebettet in märchenhafte Pflanzenformen, die blütengleiche Netze schützend über den Einzelnen spannen, der im Schoße der Natur das Zwiegespräch mit dem Smartphone oder Laptop sucht, oder sich mit einem anderen digitalen Partner der Welt auf einer nicht minder märchenhaften Himmelsschaukel entzieht, darunter die Zivilisation im totalen Chaos versinkt. „Out of order“ lautet der Titel eines apokalyptischen Szenariums, das sich ohne Umschweife auf den Menschen und die Welt beziehen lässt.
Jeder steht für sich allein in diesen Bildern und ist doch Teil einer Gruppe, Teil von Teamwork und Netzwerk, das die einzelnen Menschen verbindet. Wie und mit welchen Folgen? Auch das ein umfassendes aktuelles Thema der Künstlerin, dem sie mit künstlerischem Einsatz und Verve zu Leibe rückt und durch Wege und Irrwege, Netze und Fallen, Linien und Schlaufen auf aberwitzigen Verläufen folgt, die einmal gesichtete Spur auch im größten Dickicht und grandios wahnwitzigen Schlingerkurs dingfest macht, große Stränge und feine Gespinste verknäuelt, verwebt, festzurrt, verankert – seien sie engmaschig oder locker und in größtem Maße aufgebläht - bis sie Halt geben oder passende Anknüpfungspunkte und im Zweifelsfalle in die Tonne finden und letztlich die unaufhaltsamen und bis zur Absurdität gesteigerten Kreisläufe beschleunigter Information und Produktion zum Stillstand bringen.
Dann steht das Bild und spinnt seine Fäden auf seine Weise weiter – eigendynamisch, fesselnd und traumhaft realistisch.
Matthias Reichelt: Rede zur Ausstellungseröffnung von Sabine Ostermann und Lothar Seruset am 19.6.2015 bei Galerie Tammen und Partner
In dieser Ausstellung mit Linolschnitten von Sabine Ostermann und Holzskulpturen und -reliefs von Lothar Seruset finden Sie Motive, die sich mit dem Leben in der Gegenwart befassen, und dennoch keineswegs einem punktgenauem Realismus folgen, sondern über den Tag hinaus philosophische Betrachtungen über Gegenwartsbezüge provozieren. Allegorisch, ironisch und humorvoll, aber auch mit philosophischem Ernst und dennoch spielerisch, animieren beide Künstler die Betrachter auf sehr unterschiedliche Art, sich mit Fragen unseren allen Tuns und Seins zu beschäftigen.
Beiden gemeinsam ist die auf Subtraktion beruhende handwerkliche Arbeit. Durch gezielte und sukzessive Wegnahme, durch Fräsen, Schneiden, Schnitzen, setzen sich die eingekerbten Linien, die herausgearbeiteten Partien zu Bildern und zu den skulpturalen Formen zusammen. Die Farbgebung steht bei beiden jeweils am Ende des Schaffensprozesses. Materialbedingt entstehen bei Ostermann reliefartige flächige Bilder.
Sabine Ostermann hat als bildende Künstlerin sich anfangs der Grafik verschrieben und Radierungen gefertigt. Seit geraumer Zeit arbeitet sie ausschließlich mit dem Material Linol und hat dazu beigetragen, eine – ungerechtfertigt als altertümlich verkannte Technik – wiederzubeleben. So, wie es völliger Blödsinn war – ich sage dies bewusst in dieser Drastik – immer mal wieder aufgrund modischer Trends, den Tod des Tafelbilds zu verkünden, genauso deplatziert ist es, irgendeine künstlerische Technik als passé zu deklarieren. Die Künstler sind da klüger als viele Kuratoren oder Kunstkritiker und finden ihren eigenen Weg zu „ihrem“ Material. Und, was Wunder, es entstehen immer wieder ganz neue Annäherungen an Material und Medium. Dies gilt auch besonders in Hinblick auf Sabine Ostermann, die den Linolschnitt eben nicht für einen anschließenden Druck nutzt – von anfänglichen Versuchen abgesehen – sondern ihn als Unikat bearbeitet und ausstellt. Dafür verwendet sie keineswegs die üblichen, im Kunstbereich gebräuchlichen hellbraunen Linolplatten, sondern die Industrieware, die als Bodenbelag und in vielen Färbungen produziert wird, auf die die Künstlerin ganz bewusst zurückgreift. Zusätzlich bearbeitet sie die fertig geschnittenen und reliefartigen Linolplatten mit Alkydfarbe, die sie mal mit dem Pinsel punktgenau aufträgt oder unter Einsatz von Lappen und Terpentin zu einem flächigen Unter- bzw. Hintergrund verwischt. Am Ende sind Sabine Ostermanns Werke Kombinationen aus Linolschnitt und Malerei. Hat sie in manchen früheren Arbeiten aus Linol geschnittene Figuren auf das Relief-Gemälde als zweite Ebene appliziert, und das Werk somit medial zu einer Assemblage erweitert, so ist die Künstlerin in letzter Zeit dazu übergegangen, alle bildgestalterischen Elemente in eine Linolplatte zu schneiden, womit die künstlerische und handwerkliche Herausforderung gestiegen ist. Als Vorlagen dienen oft Zeichnungen, besonders bei den großformatigen Werken.
Auf leichte, humorvolle Weise und mit ironischer Note komponiert sie ihre Beobachtungen aus einer Alltagswelt der Arbeit und des Konsums zu einem floralen oder ornamentalen und man könnte sagen: surrealen Realismus.
In dem Bild „Shopping“ von 2013 begegnen uns neun, Einkaufswagen vor sich herschiebende Männer und Frauen, die, wie in einer Endlosschleife gefangen, ihre Runden drehen. Weit und breit ist kein Ausgangspunkt und auch kein Endpunkt auszumachen, ist keinerlei Einkaufzentrum oder eine Mall zu sehen. Das Alleinstellungsmerkmal dieser Kombattanten im Bild, isoliert voneinander und dennoch verbunden in einer massenhaft betriebenen Aktivität, die zu den Grundlagen und dem Wesensmerkmal des kapitalistischen Systems gehören, könnte als Konsumkritik gelesen werden. Die Künstlerin isoliert die Fortbewegung des Kaufens oder Einsammelns von Waren und inszeniert diese als Kreislauf des ewig Gleichen. Nicht dass ich hier Sabine Ostermann eine grundlegende Ablehnung dieser Gesellschaftsformation unterstellen wollte, dennoch scheint sie diese Endlosschlaufe des Konsumismus mit einer gelassenen Skepsis und auch mit humorvoller Distanz zu betrachten. Wenn die Konsumenten auf ihrem hochformatigen und nicht in der Ausstellung vertretenen, aber im neuesten Katalog reproduzierten Bild „Beutezug“ (2014) von der Rolltreppe im oberen Teil des Bildes herabkommend nach unten rechts aus dem Bild laufen, und die „erbeuteten“ Waren wie Jäger verstauen, ohne miteinander Worte oder Blicke zu wechseln, so scheint die Atomisierung der Figuren, einzig verbunden im Gleichschritt der Apportation, den oben erwähnten Eindruck zu bestätigen.
Die in dem Bild „Expresszustellung“ von 2015 auf die Betrachter bedrohlich und fast aggressiv zurasenden Hunde mit Transportschlitten, beladen mit der fragilen Ladung von Schokoladenosterhasen, müssen dem Diktat des Konsumismus folgen, der sich den Jahreskalender mit allen Feiertagen einverleibt und viele Konsumanlässe wie Valentinstag, Halloween und dergleichen dazu erfindet. Im ewig gleichen Rhythmus sind somit Weihnachten und Ostern als ritualisierte Konsumanlässe Phänomene, denen man kaum entkommen kann. So auch die Schlitten ziehenden Hunde. Kaum sind die Weihnachtmänner passé, werden die restlichen eingeschmolzen und erstehen als Osterhasen wieder auf. Termingeschäfte unter Hochdruck! Sabine Ostermanns Bild kann als leicht garstiger Kommentar zu dem alljährlichen wiederkehrenden Geschenk- und Kaufzwangs-Trubel gelesen werden. Denn der hat so gar nichts von „Stille Nacht, heilige Nacht“ und lässt vor allem die Kassen statt Glocken süßer klingen.
Keineswegs stressfrei sind also solche Feiertage, gerade Weihnachten, die eine starke Belastungsprobe für die Familien bedeuten, soll doch Friede, Freude und Glückseligkeit herrschen. Folgt die Fassade noch diesem Anspruch, lauert kurz darunter blanker Hass und führt nicht selten zu den größten Familienstreitigkeiten.
In „WOLLEn-müssen“ von 2015 sind sieben Figuren in der Wollproduktion miteinander verbunden, ohne sich wahrzunehmen, wie es scheint. Es sind Kinder, die in verschiedenen Produktionsstadien der Wollherstellung tätig sind. Dieses Bild steht als Pars pro Toto für die übliche Kinderarbeit im Textilbereich.
Arbeit und berufliches Beziehungsgeflecht werden von Sabine Ostermann in ihren Werken als ornamentale Verbindung, als verschlungenes und in vielen Verzeigungen und Verästelungen miteinander verwobenes Netzwerk konstituiert. Das Ornament als Symbol der verschlungenen Wege von den Produzenten über den Vertrieb zu den Käufern. Trotz medialer Revolution sind die Distanzen unüberbrückbarer und intransparenter geworden und gerade hinter manchem teuren Label verbirgt sich die brutalste Ausbeutung, gerade auch von Kindern.
In „Networktrouble“ von 2015 ist das verschlungene Knäuel so unauflöslich verflochten und verknotet, dass das verzweifelte Ziehen an losen Enden keine Lösung, sondern nur zur Verhärtung, sprich Verknotung bis hin zur Unbeweglichkeit weiter vorantreiben wird. Hier ist kein kommunitäres Handeln beschrieben, sondern das isolierte, einsame und unkollegiale, allein auf egoistische Ziele gerichtete Vor-sich- Hinarbeiten. Welcome in der neuen Arbeitswelt, mit neuen Medien und größerer Vereinzelung, wo Solidarität nahezu unmöglich wird.
Sabine Ostermann ist eine aufmerksame Beobachterin von Menschen im Alltag. Die beobachteten Szenen komponiert sie mit anderen und neuen Elementen und geriert daraus wunderbar erzählende Bilder. Dem bislang nicht fertiggestellten Berliner Flughafen Willy Brandt widmet sie gleich zwei große Arbeiten. Auf der unbenutzten und für den Verkehr gesperrten Landebahn geben sich die Kaninchen ein fröhliches Stelldichein. Die Anregung erhielt sie durch ein Zeitungsfoto. Wann die Lande- und Startbahn und damit der ganze Flughafen eines fernen Tages in Betrieb genommen werden können, und die Tiere vor dem Lärm der an- und abfliegenden Maschinen das Weite suchen müssen, steht in den Sternen.
Auszüge aus dem Katalog "NETZWERKE UND SEILSCHAFTEN" mit dem Vorwort von Nina Pirro von der Städtischen Galerie Neunkirchen und Auszüge aus dem Katalogtext von Herbert Schirmer.
Nina Pirro:
"Sabine Ostermann ist eine aufmerksame Beobachterin: Mit nahezu seismografischem Gespür für die Ambivalenz gegenwärtiger Gesellschaftsphänomene wie unserem Konsumverhalten oder zunehmenden digitalen Vernetzung unserer Lebens- und Arbeitswelt, entwirft die Berliner Künstlerin in ihren Linolschnitten vielschichtige Sinnbilder unserer Existenz."
"Vielschichtig sind jedoch nicht nur die Geschichten, die sich vor unseren Augen entfalten. Auch der handwerklich anspruchsvolle Arbeitsprozess ist im wortwörtlichen Sinne vielschichtig. ... Linie um Linie schneidet Sabine Ostermann hierbei die Motive aus dem Linoleum heraus und bearbeitet die verbleibende Oberfläche malerisch. Das Ergebnis sind Linolschnitte, die nicht für den Druck bestimmt sind, sondern als Flachreliefs mit starker plastischer Wirkung für sich selbst stehen.
Herbert Schirmer:
"So wie in der digitalen dreht sich auch in der analogen Welt in zum Teil merkwürdigen Szenarien, alles um die Be- und Gefangenheit des modernen Menschen, um Veröffentlichung innerer Zustände, wobei die vielgepriesene Individualität häufig nivelliert und die Spezies Mensch eher als abstruses Mischwesen erscheint, das seine Vorstellung vom Leben im Hamsterrad absolviert."
"Als eine Art melancholischer Apokalypse könnte man diese düsteren Gesellschaftsstücke beschreiben..."
"Wie in fast allen Bildern vergegenwärtigt Sabine Ostermann positive wie auch negative Konsequenzen, mit denen sie als gesellschaftspolitisch engagierte Künstlerin ein breites Publikum visuell für den bedrohten Zustand der Welt und die Irrwege der Gesellschaft zu sensibilisieren sucht. Alternativen zum Gewohnten provozieren und Selbstverantwortung mobilisieren."